COVID-19: Wie sich Deutschland zerfleischt und wie es wieder zusammen finden könnte
Otto Kölbl, 7. Sept. 2020, Universität Lausanne
Gewidmet den Mitstreitern auf Twitter und Facebook gegen die neuen Ultra-Rechtsliberalen
Die erbitterten Grabenkämpfe bezüglich der COVID-Politik haben selbstzerstörerische Dimensionen angenommen. Dabei müssen wir mitansehen, wie in Ostasien ein Land nach dem anderen seine “Zweite Welle” in den Griff kriegt, während nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, alle nur gebannt auf Zahlen und Kurven starren. Es ist jedoch viel zu einfach, zaudernden Politikern, COVID-Leugnern und Anti-Vaxxern die Schuld zuzuschieben. Die Experten und akademischen Forscher, die uns mit den nötigen Informationen versorgen sollten, haben von Anfang an versagt und weigern sich auch jetzt noch, die dringend nötige Arbeit zu tun. Nur rigorose Forschung, die im Moment leider nicht getan wird, kann uns helfen, in entgegengesetzte Richtungen ziehende Kräfte in der Gesellschaft wieder zu vereinen.
Es besteht momentan ein grundlegender Konflikt zwischen denjenigen, die der Gesundheit und dem Retten von Menschenleben oberste Priorität einräumen, und denjenigen, die vor Schäden an der Wirtschaft und am sozialen Leben warnen. Dieser Konflikt beruht jedoch auf einem Missverständnis, das schon längst durch adäquate Forschung hätte ausgeräumt werden können. Unter allen möglichen Strategien gegenüber COVID-19 hat eine gezeigt, dass sie sowohl die Gesundheit der gesamten Bevölkerung besser schützen als auch die Schäden an Wirtschaft und Gesellschaft niedriger halten kann als alle anderen. Diese Strategie besteht in der Eindämmung des Virus: wenn nötig wird zuerst die Anzahl Neuinfektionen pro Tag auf ein niedriges Niveau gedrückt, dann wird sie permanent dort gehalten, wobei die wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen weitgehend aufgehoben werden können. Die Ausbreitung des Virus wird vor allem mit Testen-Kontaktsuche gehemmt, unterstützt von Massnahmen wie Abstand halten, Gesichtsmasken und Hände waschen sowie Einschränkungen bei Anlässen mit grossem Risiko.
Diesen Zugang zur Epidemie haben wir im Szenarienpapier “Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen” (1) unter Mitwirkung des BMI vom 22. März detailliert dargelegt. Es hat sehr schnell den bis dahin verfolgten Zugang der Bundesregierung ersetzt, der auf einem Erreichen der Herdenimmunität bei Vermeidung der Überlastung der Spitalkapazität basierte. Seit dem Höhepunkt der Epidemie Anfang April wurde die Anzahl der bestätigten täglichen Neuinfektionen bis Anfang Juni um einen Faktor 20 gesenkt. Dies ist jedoch zu einem grossen Teil dem Lockdown mit all seinen negativen Auswirkungen zuzuschreiben. Ein konsequenterer Ausbau von Testen-Kontaktsuche hätte diese Auswirkungen beträchtlich reduzieren können. Auch das vermehrte Tragen von Gesichtsmasken wurde im Vergleich zu anderen Ländern verspätet und zögerlich vorangetrieben. Vor allem wurde Anfang August nicht reagiert, als sich klar eine zweite Welle abzeichnete. Jetzt, wo der Schulanfang und der Herbst mit seinen Erkältungswellen und einem für Coronaviren günstigen Klima vor der Tür steht, stehen wir denkbar schlecht da.
Es wäre jedoch falsch, der Politik die Schuld zuzuschieben. Die epidemiologische Forschung hat ganz klar versäumt, eine solide Grundlage für die Diskussion zu liefern und hat so wesentlich zu einer verbitterten Spaltung in zwei Lager geschaffen. Dabei geht es nicht darum, ausgefeilte hypothetische Modelle zu erstellen, was die Epidemiologie des 21. Jahrhunderts als ihre Hauptaufgabe zu betrachten scheint. Es geht vor allem darum, nachvollziehbare Daten und Analysen zu liefern. Dafür müssen die Rohdaten oft erst gesammelt und aufwändig mittels komplexer Modelle analysiert werden. Leider werden momentan jedoch die Rohdaten schon nicht gesammelt, weshalb die Modelle grösstenteils hypothetisch bleiben und all ihre Überzeugungskraft verlieren. Manchmal sind die Rohdaten auch verfügbar, werden jedoch nicht genutzt.
Aufgrund der mangelhaften Informationslage sind verschiedene Kreise der Gesellschaft in einen bitteren Konflikt verwickelt. Dabei geht es nicht nur um die oben erwähnte Frage, wie viele Mittel wir in den Kampf gegen das Virus stecken sollen. Auch diejenigen, die grundsätzlich für eine erfolgreiche Eindämmung sind, wehren sich mit aller Macht gegen Massnahmen, die sie selber betreffen. Hier seien nur folgende genannt: die “Wirtschaft” (d.h. Vertreter der Grossunternehmen), der Mittelstand, die Organisatoren von Grossereignissen. Zwischen den Eltern von Kindern im schulfähigen Alter und Kleinkindern herrscht ein noch verbitterterer Kampf um das Offenhalten der Schulen um jeden Preis versus Infektionsschutz. Bestimmte Gruppierungen am rechten Ende des politischen Spektrums, vor allem extreme Rechtsliberale, heizen diese Konflikte mit allen Kräften an und gewinnen zusehends neue Anhänger.
Was ist die Lösung?
Ausser wenn wir eine schnelle Verbreitung des Virus mit entsprechender Spitalüberlastung und einer extrem hohen Sterblichkeit in Kauf nehmen, sind Massnahmen unerlässlich. Der Zweck aller Massnahmen ist es, die Anzahl Personen, die von jeder infizierten Person wiederum angesteckt werden, zu reduzieren. Dabei dürfte klar sein, dass wirksamere Massnahmen in einem Bereich im Gegenzug mehr Freiheit und weniger Einschränkungen in anderen Bereichen erlauben.
Einige dieser Massnahmen, wie z.B. Hände waschen, Abstand halten und Gesichtsmasken tragen, sind nur lästig, haben aber keine grossen Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Dass um das Tragen von Gesichtsmasken in einigen Westlichen Ländern so viel Wirbel gemacht wird, dass darüber sogar Todesopfer zu beklagen sind, kann nur noch als kollektive Hysterie bezeichnet werden. Diese Hysterie wurde anfänglich angeheizt von der extrem agressiven Berichterstattung über China und andere asiatische Länder. Dabei wurde uns immer wieder eingebläut, dass die Leute in Asien ganz anders seien als wir, viel disziplinierter und gehorsamer, dass sich dort das Individuum dem Kollektiv unterordnen müsse, und dass sie deshalb fraglos Lockdowns und das Tragen von Gesichtsmasken akzeptieren. Dass derartige Clichés eigentlich als ultranationalistische Hasspropaganda bezeichnet werden müsste, seit hier nur nebenbei angemerkt. Tatsache ist, dass nur Wochen später die gleichen Massnahmen in den meisten Westlichen Ländern eingeführt und von der Bevölkerung als Notwendigkeit akzeptiert wurden. Die anfängliche Fehleinschätzung der Wirksamkeit von Gesichtsmasken durch praktisch alle Westlichen Experten hat sicher ebenfalls dazu beigetragen (siehe unten).
Andere Experten haben durch Warnungen vor den vermeintlichen physischen und psychischen Schäden fleissig beigetragen. Tatsache ist: In vielen Berufszweigen ist das Tragen von Gesichtsmasken üblich; im Winter tragen viele Personen einen Schal um Mund und Nase, auch bei sportlichen Aktivitäten wie Skifahren, ohne dass dies zu einem Ansturm auf Notaufnahmen oder die Praxen von Psychologen und Psychiatern führt; Kommunikation ganz ohne visuellen Kontakt ist seit Erfindung des Telefons auch tagsüber gang und gäbe; selbst davor hörten die Menschen nachts nicht auf zu kommunizieren, weil sie das Gesicht des Gegenübers nicht erkennen konnten. Gänzlich unverständlich wird die Angelegenheit dadurch, dass das Protestgeschrei gegen Gesichtsmasken vor allem aus dem rechten und rechtsextremen Lager kam, wo man Linke früher gern als Jammerlappen bezeichnete.
Die Tatsache, dass sich das Maskentragen in den Westlichen Ländern nur sehr langsam gegen zähen Widerstand durchsetzte, obwohl es eine wirksame und wenig beeinträchtigende Massnahme ist, hat nicht nur bei vielen das Vertrauen in die Menschheit, Behörden und Experten erschüttert. Das monatelange Zaudern und Ringen hat auch unzählige Menschenleben gefordert und die im März eingeführten Lockdowns unnötig verlängert. Mit gesundem Menschenverstand oder rationalen Enscheidungen hat dies nichts zu tun.
Es ist umso überraschender, dass Lockdowns im März kaum auf Widerstand stiessen, nachdem Experten und Medien sie wochenlang als “nur in Asien möglich” und mit freiheitlichen Werten unvereinbar bezeichneten. Es steht ausser Frage, dass Lockdowns entschieden dazu beitrugen, die Anzahl Neuinfektionen auf ein niedriges Niveau zu senken. Da jedoch keine auf soliden Daten basierte Analyse der Entwicklung der Neuinfektionen zur Verfügung steht, wird die Wirksamkeit von Lockdowns von einigen Experten und von bestimmten auf den sozialen Medien aktiven Gruppen pauschal geleugnet. Ihre Begründung: Wenn man nicht das Meldedatum, sondern (wo verfügbar) den Beginn der Symptome als Ausgangspunkt nimmt, wird klar, dass in Deutschland und auch anderswo der Anstieg der Neuinfektionen schon vor Beginn der schärfsten Lockdownmassnahmen zu Ende war.
Die Reaktion auf eine Epidemie muss immer als eine Zusammenwirkung von staatlichen Massnahmen und von Initiativen der Bevölkerung gesehen werden. Eigeninitiative kann einen grossen Einfluss haben, hält jedoch meist nicht lang an. Auch sind zahlreiche Fälle belegt (z.B. New York), wo der anfängliche Versuch, sich auf freiwillige Eigeninitiative zu verlassen, zu einer Katastrophe mit hoher Übersterblichkeit führte, die schliesslich striktere und länger anhaltende Massnahmen erforderte. Die Forschung aus einer rückblickender Perspektive, die ja wesentlich einfacher ist als die richtige politische Entscheidung zu treffen, wird jedoch nicht gemacht. Dieser Mangel hat ganz offensichtlich zu der Unmöglichkeit geführt, die Bevölkerung für eine demokratische Meinungsbildung ausreichend zu informieren.
Ganz allgemein hat sich die Diskussion zu stark auf Lockdowns konzentriert und die wichtigste Massnahme vernachlässigt: Testen-Kontaktsuche. Sobald die Anzahl Neuinfektionen auf ein niedriges Niveau gesunken ist, wird Testen-Kontaktsuche zu einem hochwirksamen Mittel, um Infektionsketten zu unterbrechen. Die Erfahrung in zahlreichen Ländern in Asien und zumindest ansatzweise in Europa hat klar gezeigt, dass eine genügende Kapazität für Testen-Kontaktsuche, kombiniert relativ leichten anderen Massnahmen, die Anzahl Fälle auf niedrigem Niveau konstant halten kann. In vielen Ländern Europas wurde dieses Szenario zumindest im Juli Realität. Diese Strategie ist sowohl für die Wirtschaft als auch für das gesellschaftliche Leben und die öffentliche Gesundheit optimal. Daten zeigen, dass eine erfolgreiche Eindämmung gemäss dieser Strategie die Infektionsrate um mehr als einen Faktor Tausend senken kann. Und also auch die Anzahl Langzeitkranker, Langzeitschäden und Todesfälle.
Weil darüber jedoch nicht adäquat informiert wird und ständig von Lockdowns gesprochen wird, zerfleischt sich unsere Gesellschaft in einem Tauziehen für oder gegen Lockdowns. Es muss auch gesagt sein, dass diejenigen, die im März und April für Lockdowns warben bzw. sie einführten, oft nicht sehr motiviert schienen, sie so schnell wie möglich wieder aufzuheben. Dies hinterliess bei vielen den Eindruck, dass es nicht nur darum ging, das Virus möglichst effizient einzudämmen, sondern dass weitere ideologische Motive eine Rolle spielten. Aus einem Virus, das man mit entschiedenen, aber relativ schmerzlosen Massnahmen hätte schadlos halten können, wurde ein erbitterter ideologischer Grabenkrieg.
Noch schlimmer wurde das Ganze dadurch, dass alle Akteure vor allem an ihre eigenen Interessen denken. Gezanke darum, ob wir die Schulen oder die Clubs und Discos offen halten sollen, ist sinnlos zerstörerisch, wenn gezielte Massnahmen uns erlauben können, beide offen zu halten. Hier scheint die Auffassung, dass politische Entscheidungen immer durch das Wirken von Vertretern unterschiedlicher Interessen zustande kommt, eine Rolle gespielt zu haben.
Das Fiasko mit den Gesichtsmasken
Ein anderes Schlachtfeld ist die teils erbittert geführte Diskussion über Gesichtsmasken. In Asien setzte sich sehr schnell die Erkenntnis durch, dass das systematische Tragen von Masken die Verbreitung des Virus hemmt. Nach allem, was man mehr als ein halbes Jahr später dazu sagen kann, hatten sie recht. In Europa setzt sich diese Erkenntnis nach einer Übersterblichkeit von ca. 200'000 Personen ganz langsam durch. Man kann natürlich kulturell argmentieren, dass das Tragen von Gesichtsmasken in Asien allgemein weit verbreitet ist. Aber wie kann es sein, dass das Denken unserer Epidemiologen von kulturellen Werten bestimmt wird und nicht von rigoroser Forschung?
Bis einschliesslich März überwog unter Westlichen Experten die Meinung, dass relativ einfache Gesichtsmasken die Träger kaum gegen ein Virus schützen können. Warum aber der Schwerpunkt auf den Schutz der Träger? Aus Asien kam sehr schnell die Information, dass Gesichtsmasken die Ausbreitung des Virus vor allem dadurch hemmen, dass sie die Produktion von Tröpfchen an der Quelle unterbinden. Westliche Experten schienen bis Mitte März jedoch nicht daran interessiert zu sein, wie man die Ausbreitung des Virus eindämmen kann. Wie weiter unten erklärt, hatten sich alle in der zweiten Februarhälfte darauf geeinigt, dass dieses Virus nicht eingedämmt werden kann. Sie gingen davon aus, dass sowieso ca. 60% der Bevölkerung infiziert würde, bis Herdenimmunität der pandemischen Ausbreitung ein Ende bereiten würde. Dementsprechend waren sie nur daran interessiert, wie einzelne Personen sich vor der Infektion schützen können, um das Aufbauen der Herdenimmunität anderen zu überlassen. Für diesen Zweck sind Gesichtsmasken nur sehr bedingt nützlich.
In der zweiten Märzhälfte schwenkten vor allem in Europa, aber auch in den USA, viele Experten auf Eindämmung um. Es waren jedoch nicht Epidemiologen, sondern besorgte Bürger, die Anfang April in selbst gemachten Videos die Wirksamkeit von selbst einfachen Gesichtsmasken zur Senkung der Tröpfchenproduktion beim Sprechen belegten.
Inzwischen gibt es zahlreiche Studien über dieses Thema. Es fehlt jedoch die Antwort auf die wichtigste Frage: Um welchen Faktor kann das allgemeine Tragen von Gesichtsmasken die Ausbreitung des Virus während einer COVID-19-Epidemie reduzieren? Studien über Gesichtsmasken allein können darauf keine Antwort liefern. Es gibt Länder, z.B. Japan im März-April, wo das weit verbreitete Tragen von Gesichtsmasken wahrscheinlich massive Unzulänglichkeiten bei der COVID-Politik ausgeglichen hat. Eine Unzahl weiterer Faktoren hätte jedoch ebenfalls einen Einfluss haben können.
Es ist heutzutage nicht schwer, den Einfluss von verschiedenen Faktoren zu trennen, wenn man die nötigen Daten hat. Wenn man zum Beispiel für sehr viele Länder in regelmässigem Zeitabstand weiss, wie viele Personen in verschiedenen Umgebungen Masken tragen, wie gut Abstand eingehalten wird, wie weit verbreitet Heimarbeit ist, wie viele Personen auf private Feste verzichten, wie viele Sitzungen und Geschäftsreisen durch Zoom ersetzt werden usw., kann man den Einfluss der einzelnen Massnahmen auf die Zu- oder Abnahme der Fälle berechnen. Weitere benötigte Daten wie etwas die Bevölkerungsdichte, die Zu- oder Abnahme der Mobilität usw. können leicht von verschiedenen Quellen bezogen werden.
Für Masken tragen, Abstand halten usw. gibt es jedoch keine verfügbaren Datenquellen. Diese Daten müssten für diesen Zweck eigens erhoben werden, z.B. durch Beobachtung in Läden, ÖPNV, Betrieben, Schulen, usw. nach einheitlichen Kriterien in verschiedenen Ländern. Qualifizierte Arbeitskräfte gibt es eigentlich dafür genug. In Deutschland arbeiten mehrere Tausend Forscher an Epidemiologie-Instituten. Sie wurden jahrzehntelang mit Steuergeldern bezahlt, um im Fall einer Epidemie einsatzbereit zu sein. Was machen sie jetzt? Es ist einfach nichts zu sehen von der Datensammlungs- und -analyseaktivität, die von Arbeitskräften in dieser Grössenordnung locker bewerkstelligt werden könnte. Infolgedessen können weder die Regierung noch private Maskenaktivisten die von ihnen geforderten Massnahmen überzeugend belegen; das Maskentragen wird zu einer Glaubensfrage, wo Befürworter als hörige Schafe und Gegner als verantwortungslose Egoisten dargestellt werden. Wenn dies bei einer Frage passiert, wo es um Leben und Tod vieler Menschen geht, dürfte allen einleuchten, dass die Folgen für den sozialen Zusammenhalt katastrophal sind. Und diese in grossem Massstab datengestützte Forschung kann eben nicht dadurch ersetzt werden, dass man nebeneinander stehenden Käfigen mit Hamstern einmal Tücher umbindet und einmal nicht und dann misst, wie schnell das Virus vom Käfig mit infizierten Hamstern zum anderen überspringt (2).
Die heutige akademische Gemeinschaft: Erbitterter Wettbewerb, nach fragwürdigen Kriterien bewertet
Warum werden die notwendigen Datensammlung und –analyse nicht durchgeführt? Als ich Anfang April diese Idee zu ersten Mal als preprint online stellte (3) und in der BMI-Taskforce eine Diskussion darüber anregte, waren viele einverstanden mit der Notwendigkeit. Die Diskussion verstarb jedoch sehr schnell. Der Grund dafür scheinen die Kriterien zu sein, nach denen innerhalb der akademischen Gemeinschaft Kompetenz bewertet wird, vor allem in der Epidemiologie, wahrscheinlich weniger in der Virologie. Das langweilige Sammeln von Daten, das vor Jahrzehnten als Grundlage von jeder seriösen Forschungsarbeit betrachtet wurde, wird zunehmend nur noch belächelt. Wenn ein-e Forscher-in auch nur ein paar Monate damit verbringt, kann die akademische Karriere schon darunter leiden. Nur “innovative” Forschung bringt die eigene Karriere vorwärts und steigert das Ansehen des Instituts. Die Tatsache, dass für sinnvolle Forschung über COVID-19 monatelanges langweiliges Datensammeln nach weltweit einheitlichen Kriterien dringend notwendig ist, um Leben zu retten und eine Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden, ist heutzutage in der akademischen Gemeinschaft irrelevant. Verantwortungsgefühl für die gesamte Gesellschaft, die ja durch ihre Steuern das akademische System finanziert? Fehlanzeige.
Wir brauchen natürlich noch viel mehr als nur zusätzliche Daten. Diese Daten sollten schliesslich benutzt werden, um die zeitliche Entwicklung der Anzahl Fälle in den verschiedenen Ländern und Regionen zu erklären. Wir haben im Moment jedoch nicht einmal verlässliche Quellen für die Anzahl Fälle. Während der “ersten Welle” im März-April war die Testkapazität bei weitem ungenügend. Dehalb wurde nur ein Bruchteil der Fälle in den Statistiken (“bestätigte Fälle) erfasst. Wie wir daraus eine vernünftige Schätzung der tatsächlichen Fälle ableiten können wurde noch nicht zufriedenstellend gelöst. Dafür wäre eine systematische Untersuchung der Beziehung zwischen Testkapazität/Testmodalitäten und dem Verhältnis bestätigte/tatsächliche Fälle nötig, unter Hinzunahme von zahlreichen weiteren Daten wie z.B. Antikörperteststudien und Übersterblichkeit.
Leider führt auch diese offensichtliche Lücke in der Forschung zu scharfen Konflikten in der Gesellschaft. Als sich im Juli und August in mehreren Ländern erste Anzeichen einer zweiten Welle abzeichneten, wurde dies von vielen als Folge der Ausweitung der Testkapazität abgetan. Noch folgenschwerer: das sichtbare Ansteigen der Fälle ohne gleichzeitiges Ansteigen der Spitaleinweisungen und der Todesfälle verleitete nicht nur viele Laien, sondern auch einige Experten dazu, das “Ende” der Epidemie zu verkünden. Es sterbe ja niemand mehr an dem Virus. Eine Analyse von allen “Wellen” seit Beginn der Epidemie hätte sofort gezeigt, dass jede Welle immer zuerst relativ junge Personen betrifft. Sozial aktive und relativ viel reisende Personen spielen bei der anfänglichen Verbreitung eine grosse Rolle. Erst später werden auch ältere Personen infiziert.
Dies war auch in Deutschland im März der Fall. In den ersten Wochen waren viele unendlich stolz darauf, wie gut Deutschland die Epidemie mit einer geringen Fallsterblichkeit meisterte (4). Dann stieg die Fallsterblichkeit an, und erst viel zu spät wurde bemerkt, dass Deutschland eben doch keine Ausnahme war. So war viel Zeit für die Vorbereitung, insbesondere für das Hochfahren der Testkapazität, verschwendet worden. Der Lockdown, um die Fallzahlen wieder auf ein niedriges Niveau zu bringen, wurde dadurch unnötig länger, mit schweren wirtschaftlichen und sozialen Folgen.
“Sonderfall” Schweden: Welche Impaktfaktoren auf die Verbreitung des Virus?
Wie schon oben angetönt, brauchen wir gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Impaktfaktoren in der Gesellschaft die Verbreitung des Virus fördern oder bremsen. Forschung über dieses Thema ist notwendig, damit wir Alternativen zu gegenwärtigen Massnahmen abschätzen können. Vor allem das Argument des “Schwedischen Modells” kommt immer wieder: Es wäre doch auch möglich gewesen, das Virus mit nur einem leichten, fast ausschliesslich freiwilligen Lockdown einzudämmen. Leider wird auch hier die nötige Forschung nicht getan, wieder aus dem gleichen Grund: Die Daten fehlen.
Aus den verfügbaren Daten über den Verlauf der Ausbrüche an verschiedenen Orten ergibt sich ein sehr ungleiches Bild bezüglich der Verbreitungsgeschwindigkeit vor dem Ergreifen der ersten Massnahmne. Diese Verbreitungsgeschwindigkeit kann z.B. mit der Reproduktionszahl R angenähert werden. Vor allem in grossen Städten mit grosser Bevölkerungsdichte (Wuhan, New York (5)) scheint sie sehr hoch zu sein. Leider zeichnen die Zahlen der bestätigten Fälle kein verlässliches Bild, da in beiden Fällen die Anfänge der Ausbrüche nicht erkannt wurden und dann lange ungenügend getestet wurde. Wie schon oben erklärt, muss also nur schon in die Beschreibung des Verlaufs der Ausbrüche viel Arbeit gesteckt werden. Anschliessend die verschiedenen Impaktfaktoren auf die Verbreitung des Virus unabhängig von getroffenen Massnahmen herauszuarbeiten ist noch erheblich komplexer.
Aus den vorhandenen Daten schält sich aber auch hier ein recht kohärentes Bild heraus, das mit den bekannten Mechanismen der Virusverbreitung in Einklang steht. Folgende Faktoren scheinen die Verbreitung zu beschleunigen:
- Grosse Städte mit hoher Bevölkerungsdichte (grosse Wohnblocks, Gedränge im ÖPNV, überbelegte Wohnung, in extremen Fällen Unterkunft in Schlafsälen, usw.),
- ein stark vernetztes soziales Leben (Treffen in grösseren Gruppen, mit ständig wechselnden Personen), wo oft mit lauter Stimme kommuniziert wird,
- grössere physische Nähe in sozialen Kontakten, z.B. Oktoberfest-artige Events, Küsschen auf die Wange bei der Begrüssung, usw.,
- arbeitskraftintensive Industrie (grosse Fabrikshallen, in Europa z.B. Schlachtereibetriebe),
- zahlreiche potentielle superspreader events, z.B. Bars und Nachtclubs, kulturelle, sportliche und religiöse Grossanlässe, Kongresse, usw.,
- eine grosse Mobilität.
Aus der obigen Liste dürfte hinreichend hervorgehen, dass die Eindämmung des Virus für bestimmte Länder und Städte schwieriger ist, dass deshalb viel einschneidendere Massnahmen erforderlich sind. Dies gilt vor allem für Länder in Asien und Südeuropa und dichte Städte wie New York. Schweden hingegen ist ein extremer Fall eines Landes, wo das Virus es nur schon von den normalen Bedingungen extrem schwer hat. Zu behaupten: Wenn wir in anderen Ländern die gleichen Massnahmen wie in Schweden getroffen hätten, wäre es gleich verlaufen, ist also reiner Unsinn. All dies ist jedoch nur das Ergebnis einer informellen Analyse der verfügbaren (unzureichenden) Daten. Auch wenn man in grossem Massstab die verschiedenen verfügbaren Datensätze in Excel analysiert und grafisch darstellt, ersetzt dies nicht ein sorgfältig ausgearbeitetes multivariates Modell.
Wenn die Forschung immer alles und sein Gegenteil belegt: Wir brauchen ein COVID-IPCC
In den vorhergehenden Abschnitten wurde wiederholt auf fehlende Forschung hingewiesen, um bestimmte Aspekte der COVID-19-Epidemie zu verstehen und überzeugend erklären zu können. Dafür sind Modelle nötig, die auf einen grossen Menge an soliden Daten beruhen. Nur so können die Ergebnisse für alle nachvollziehbar dargestellt werden. Derartige Modelle können nur von grossen international und interdisziplinär zusammengesetzten Teams ausgearbeitet werden. Die allein arbeitenden Forscher und kleinen Forscherteams, die momentan auf der ganzen Welt über dieses Virus forschen, produzieren eine derartige Menge an Artikeln, dass praktisch niemand mehr die Übersicht behalten kann. Das grösste Problem ist dabei, dass für viele politisch relevante Fragen sowohl alle möglichen Antworten als auch ihr Gegenteil durch Artikel in peer reviewed Fachzeitschriften belegt werden. Dann gehen Anhänger von entgegengesetzten Meinungen auf Twitter aufeinandern los und werfen sich akademische paper an den Schädel. Dies tut zwar nicht so weh wie mit Pflastersteinen, für den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Wissenschaft ist es aber möglicherweise noch schädlicher.
Wir haben bewährte Methoden, um in ein solches Chaos wieder einigermassen Ordnung zu bringen. Ein gutes Beispiel ist der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Er wurde gegründet, um solide wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel auszuarbeiten. Auch wenn weiterhin eine Minderheit die Realität des Klimawandels anzweifelt oder leugnet, hat er doch wesentlich dazu beigetragen, dass Gesellschaft und Politik eine solide Referenz haben, auf die sie ihre Entscheidungen stützen können.
Jetzt haben wir eine Epidemie, die für die gesamte Gesellschaft zur Zerreisprobe wird, unter anderem, weil die Experten und Ärzte sich gegenseitig eben nicht nur akademische Schriften an den Kopf schmeissen, sondern auch weniger gepflegte Ausdrücke. Dabei verlangt niemand die Quadratur des Kreises von ihnen. Mehrere Länder in Asien haben vorgemacht, wie man mit diesem Virus optimal umgeht. Inzwischen sollte eigentlich klar sein, dass Länder, die sofort strikte Massnahmen getroffen haben, um das Virus einzudämmen, jetzt weitaus besser dastehen als diejenigen, wo zuerst auf Herdenimmunität gesetzt wurde. Dies betrifft die Anzahl Fälle, die Sterblichkeit, die Gesundheitsschäden durch Langzeitfälle und Langzeitschäden, aber auch die wirtschaftlichen Einbussen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und das Vertrauen in die Institutionen.
Warum wird die Schaffung eines COVID-Rates gemäss dem Modell des Klima-Rates nicht einmal diskutiert? Es hängt vielleicht damit zusammen, dass die Mehrheit der Experten, die jetzt für Eindämmung plädieren, eine Aufarbeitung ihrer früheren Stellungnahmen vermeiden wollen.
“Dieses Virus kann nicht eingedämmt werden.” Schon vergessen?
Einer der grundlegenden Konflikte in Deutschland stammt daher, dass zwischen Mitte Februar und Mitte März praktisch alle Experten behaupteten, dass dieses Virus nicht eingedämmt werden kann, dass sich zuerst ca. 60% der Bevölkerung infizieren würden, bevor die Pandämie zum Stillstand kommt oder langsamer wird (6) (7) (8) (9). Durch diese zunehmend ohne Zweifel oder Unsicherheit ausgedrückte Behauptung wurde jegliche politische Diskussion im Keim erstickt. Hier als Beleg ein Auszug aus dem NDR-Podcast von Christian Drosten vom 27. März (10):
Also weil wir eben wirklich schon davon ausgehen können, dass eine vollkommene Durchinfektionen der Bevölkerung stattfinden wird. Das heißt, wir müssen eben von dieser Zahl von 60, 70 Prozent Infizierten ausgehen, bevor die pandemische Verbreitung stoppt.
Diese Behauptung wurde zuerst von namhaften amerikanischen und britischen Epidemiologen aufgestellt, bevor sie von praktisch allen Westlichen Experten übernommen wurde. Warnende Stimmen, die zur Eindämmung des Virus aufriefen, wurden zum Schweigen gebracht. Dabei muss man sich die Folgen vor Augen halten, die sich aus dieser Behauptung ergaben. Dies bedeutet, dass man auf Herdenimmunität setzt. Auch wenn die meisten Experten und Behörden dieses Wort mieden, läuft es doch darauf hinaus. Da den meisten Experten klar war, dass eine schnelle Durchseuchung das Gesundheitssystem überlasten würde, rieten sie gleichzeitig zu veschiedenen Massnahmen, um die Ausbreitung zu verlangsamen. In den USA stand der Ausdruck “Flatten the curve!” mit der dazugehörenden Grafik für diesen Zugang zur Epidemie. Es ging darum, die Verbreitung des Virus “zu verlangsamen”, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, aber ohne auch nur zu versuchen, die Anzahl der Infizierten zu reduzieren.
Im Gegensatz dazu steht die Eindämmung, die konsequent von der WHO empfohlen (11) und von den meisten Ländern in Asien erfolgreich durchgeführt wurde. Der Grundsatz ist, dass man die Anzahl der täglichen Neuinfektionen durch geeignete Massnahmen auf Null oder zumindest auf ein niedriges Niveau drückt und dort hält, bis ein Impfstoff oder eine Behandlungsmethode bereit steht.
Niemand hat im März so richtig verstanden, weshalb die europäischen Regierungen versäumt hatten, genügend Schutzanzüge für das behandelnde Krankenhauspersonal zu beschaffen. Sie hätten nur wenige Woche dafür Zeit gehabt, aber mit einer gezielten Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Kräfte hätte viel getan werden können. Das Thema stand aber überhaupt nicht zur Debatte, bis es zu spät war. Der Grund ist leicht gefunden: Die Experten gingen davon aus, dass sich im Pandämie-Stadium ca. 60% der Bevölkerung infiziert und die Infektionen dann viel langsamer fortschreiten, bis fast die gesamte Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt gekommen ist. Das behandelnde Krankenhauspersonal ist auch bei optimalem Schutz einer noch grösseren Wahrscheinlichkeit einer Infektion ausgesetzt. Eine aufwändige Mobilisierung hätte also keine Leben gerettet, sondern nur für einige den Tod um ein paar Monate hinausgezögert. Niemand sprach solche Überlegungen je aus, es ist aber offensichtlich, dass danach gehandelt wurde.
Eine weitere Folge betrifft den optimalen Zeitpunkt, um einen Lockdown einzuführen. Nachdem die Erfahrung entgegen allen Voraussagen der Experten gezeigt hat, dass es möglich ist, dieses Virus einzudämmen, stellten viele Experten Berechnungen an, die zeigten, dass frühere Lockdowns mehr Leben hätten retten können. Viele Experten hatten ja schon früh zu Lockdowns aufgerufen. Leider hat diese Argumentation einen Haken: Wenn alle Experten gleichzeitig behaupten, dass dieses Virus nicht eingedämmt werden kann, holt die Regierung zuerst bei Beratern in wirtschaftlichen und sozialen Fragen ihre Meinung ein. So wird schnell klar, dass bei einem Hinarbeiten auf Herdenimmunität die Infektionsrate ganz knapp unter der maximalen Kapazität des Gesundheitssystem gehalten werden muss. Ein früherer Lockdown rettet keine zusätzlichen Leben sondern verlängert nur die Dauer des Lockdowns, mit gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Schäden. Mitte März ging man in bestimmten Regierungskreisen davon aus, dass ein mehrere Monate dauernder Lockdown durchaus zu einem Kollaps des politischen Systems und der Gesellschaft führen könnte. Die Kritik von vielen Epidemiologen, dass die Politik trotz ihrer “Warnungen” zu spät Massnahmen ergriffen hat, dient also nur dazu, vom eigenen Versagen abzulenken. Die Idee, dass die für dieses Desaster verantwortlichen Experten zur Rechenschaft gezogen werden können, wird strikt zurückgewiesen. Für eine Untersuchung des allgemeinen Funktionierens der akademischen Gemeinschaft sieht ebenfalls niemand Bedarf. Auch hier wieder finden wir keine Spur von Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft.
Eine Aufarbeitung dieser Phase in der COVID-Kommunikation von Experten und Behörden ist dringend nötig. Das Argument, dass es eigentlich nur darum ginge, unter der Intensivbettenkapazität zu bleiben, kommt immer und immer wieder. Das war die Zielsetzung, als Experten und Politik davon ausgingen, dass eine Durchseuchung der Gesellschaft unverbeidbar sei. Die Gründe für die erfolgte Strategieänderung wurden nie erkärt. Vielen Personen sitzt der Schrecken von Februar und März noch tief in den Gliedern; sie hatten lange vor den Experten und Behörden erkannt, dass dieses Virus nicht einfach eine Grippe oder ein Schnupfen ist. Sie brauchen keine Erkärung für den Richtungswechsel, hätten aber sicher gern gewusst, warum es so lange gedauert hat, bis sich die Erkenntnis durchsetzte.
Denjenigen, die sich von “Schnupfen” und “Grippen” nicht betroffen fühlen, kann man nur schwer vorwerfen, dass sie mit einer derart einschneidenden Änderung in der COVID-Politik Mühe haben. Noch Ende März gab Angela Merkel bekannt, dass man auf eine Verlangsamung der Zunahme der täglichen Fallzahlen auf eine “Verdoppelung alle zehn Tage” für erste Lockerungen des Lockdowns warten müsse. Es wurde praktisch vorausgesetzt, dass es nicht möglich sein würde, die täglichen Fallzahlen daran zu hindern, weiter anzusteigen. Dann war die Zielsetzung plötzlich eine massive Abnahme der täglichen Fallzahlen auf ein sehr niedriges Niveau. Erklärt wurde nichts. So kann Demokratie nicht funktionieren. Da ist ein noch glimpflich abgelaufener Versuch einer Reichstagsstürmung nur ein erstes Warnzeichen.
Deutschland heute: Gespaltene Gesellschaft und Hochkonjunktur für Shitstorming
Die gleichen Gruppierungen, die hinter der versuchten Reichstagsstürmung stehen, sind massiv in den sozialen Netzwerken aktiv. Dort wird nicht gestürmt, sondern geshitstormt. Shitstormer treten heutzutage in gut eingespielten Meuten auf. Die Profile der Aktivisten, die die meiste Arbeit machen, sind anonym. Einige von ihnen haben sichtlich mehrere Profile zur Verfügung, falls eines gesperrt wird. Vorgegangen wird psychologisch raffiniert. Auch Profile, wo auf der Timeline durchgehend eine extreme Meinung vertreten wird, geben sich im Austausch zuerst interessiert. Wenn man versucht, sachlich zu argumentieren, schlagen einem sehr schnell wertende Ausdrücke entgegen, nicht nur von einer Person vorgebracht, sondern von der schnell hinzueilenden Unterstützung. Wenn man selbst im eigenen Namen tweetet, werden auch Arbeitgeber, Kollegen und Bekannte hineingezogen. Dann kommen bald die ersten Morddrohungen.
Selbst eine sachliche Argumentation stösst schnell an ihre Grenzen. In der heutigen COVID-Debatte gibt es doch eine Art Konsens unter den “gemässigten” Experten. Dieser Konsens stützt sich aber nicht auf eine überschaubare Anzahl akademischer Publikationen, sondern ist das Ergebnis von oft informellen Diskussionen unter Experten, von denen jede-r Tausende Publikationen verschiedenster Art gelesen hat. Unter diesen Umständen an einer Publikation zu arbeiten, die Aspekte von diesem Konsens bekräftigt, bringt im heutigen akademischen System keine Vorteile für die eigene Karriere, unter anderem, weil derartige Publikationen kein Aufsehen erregen. Diejenigen, die diesen Konsens in Frage stellen, erregen andererseits viel Aufsehen unter Kollegen, Medien und sozialen Netzwerken.
Die heutige akademische Gemeinschaft funktioniert leider ähnlich wie die sozialen Netzwerke: Genauso wie ein retweet dem Autor des ursprünglichen Tweets einen Vorteil bringt, steigern Zitate der eigenen Forschung den Einfluss in der akademischen Gemeinschaft. Daraus ergeben sich wiederum handfeste Vorteile für die eigene Karriere und darüber hinaus für das Institut, die Fakultät und die Universität. Deshalb ist es oft viel schwieriger oder sogar unmöglich, durch ein paar Referenzen zu akademischen Publikationen den Konsens innerhalb eines Grossteils der akademischen Gemeinschaft zu rechtfertigen. Aussenseiterpositionen zu belegen ist meistens viel einfacher; die dazu nötige Forschung ist leicht gefunden. Eben deshalb war es im Bereich Klimawandel so wichtig, den Klimarat IPCC zu schaffen. Er hat nicht nur die Forschung koordiniert, sondern auch die nötigen Ressourcen geschaffen, damit die Ergebnisse dieser Forschung leicht kommuniziert werden können. Und das Fehlen einer ähnlichen Institution für COVID-19 bekommen all diejenigen zu spüren, die auf den sozialen Netzwerken gegen COVID-Leugner antreten.
Denn die Reichstagsstürmer und COVID-Leugner-Shitstormer als ungebildet anzutun, wie das immer wieder getan wird (12), ist ein folgenschwerer Irrtum. Zwar schücken sich viele Profile mit hochtrabenden Titeln und Berufsbezeichnungen, und wenn man ein bisschen fragt und argumentiert, stürzt alles in sich zusammen. Andere haben jedoch ganz klar ein hohes Ausbildungsniveau und wissen sehr wohl, wovon sie sprechen. Einige haben sichtlich Mathematik studiert und orientieren sich an den Arbeiten von Stanford-Forschern. Die wohl alarmierendste Entwicklung ist, dass zumindest eine Shitstorm-Gruppe aktive Unterstützung für ihren Diskurs von Ärzt-inn-en und Forscher-inne-n in gehobenen Positionen erhält, und das nicht einmal anonym. Dabei betreibt diese Gruppe keinerlei Aktivismus für eine erkennbare Strategie gegenüber COVID-19. Ihre Aktivität besteht in der gezielten Bekämpfung von Gruppen im “gegnerischen” Lager, die sich für eine effizientere Eindämmungspolitik einsetzt. Wenn solche organisierten Twitter-Schlägertrupps Unterstützung von Ärzt-inn-en und Forscher-inne-n in gehobenen Positionen erhalten, sollten eigentlich überall die Alarmglocken schrillen. Nichts dergleichen geschieht.
Nicht einmal eine Bezeichnung für diese Bewegung haben wir. Was die verschiedenen Personen, die in dieser Bewegung aktiv sind, gemeinsam haben, scheint auch niemand genau zu wissen. Vor noch ein paar Jahren wurden rechtsextreme Bewegungen oft gleichgesetzt mit Neonazis. Dies gilt gegenwärtig nicht mehr; vielleicht ist sogar das Gegenteil wahr. Viele Teilnehmer an der Demo in Brlin und in den damit verwandten Bewegungen in den sozialen Medien bezeichnen sich als Antifascisten, anti-Nazi und sogar anti-AfD. Das schienen nicht einfach Strategien zu sein, um die Spuren zu verwischen. Wie können wir dann aber die Bewegung(en) beschreiben? Ein gemeinsamer Nenner ist die kategorische Ablehnung der Idee, dass der Staat eine Verantwortung hat, COVID-19 einzudämmen. Allgemeiner formuliert handelt es sich nicht unbedingt um einen Hass gegen den Staat, aber sicher um eine Auffassung des Staates, wo dieser nur in ganz extremen Fällen die individuelle Freiheit der Bürger einschränken darf. Selbst eine Epidemie wie COVID-19 zählt offensichtlich nicht dazu. Eine passende Bezeichnung für diese Bewegung könnte “Ultra-Rechtsliberale” sein. Die Beziehung Staat-Bürger würde für sie im Idealfall so aussehen: Der Staat muss in vollkommener Transparenz bestimmte Dienstleistungen erbringen, darf dafür aber keine Freiheiten einschränken, sondern muss die Bürger überzeugen, freiwillig mitzumachen, oder auch nicht. Die Bürger haben keinerlei Verantwortung gegenüber dem Staat oder der Gesellschaft, sie können tun und lassen, was sie wollen, solange sie selbst überzeugt sind, richtig zu handeln. In anderen Worten: Der Staat muss alles, darf aber nichts. Die Bürger dürfen alles, müssen aber gar nichts.
Dies kann auch die Unterstützung erklären, welche die ultra-rechtsliberale Bewegung von Forschern und Ärzten geniesst: Dieses Weltbild wird schon seit Jahrzehnten von praktisch der gesamten akademischen Gemeinschaft vertreten. Der Staat soll die Milliarden aufbringen, welche das akademische System zum Funktionieren benötigt, soll auch auf den Rat von akademischen Experten hören, darf jedoch keinerlei Aufsicht ausüben. Die akademische Gemeinschaft fordert absolute Selbtverwaltung gemäss ihren eigenen Werten und verweigert jegliche Verantwortung und Rechenschaft gegenüber Staat und Gesellschaft.
Wir brauchen eine Aufarbeitung der Mechanismen, die in eben dieser akademischen Gemeinschaft im Februar-März zu dem Konsens geführt hat, dass dieses Virus nicht eingedämmt werden kann. Dieser Konsens hat sich als falsch erwiesen, da alle europäischen Länder dann eine erfolgreiche Eindämmung durchgeführt haben; die Politik hörte jedoch zu lange auf die Stimme der Wissenschaft. Durch die so verschwendete Zeit haben wir jedoch eine Übersterblichkeit von 200'000 Personen zu beklagen. Die Schäden an Gesellschaft und Wirtschaft sind ebenfalls um ein Vielfaches grösser als bei einer von Anfang an auf Eindämmung ausgerichteten Politik. Auch jetzt, wo die Mehrheit in der akademischen Gemeinschaft auf Eindämmung drängt, finden COVID-Leugner viel leichter nützliche akademischen Publikationen als diejenigen, die für Eindämmung argumentieren. Die Datensammlung und Forschung, die für eine Ausarbeitung und erfolgreiche Kommunikation einer Eindämmungspolitik nötig ist, werden nicht getan. Die Hintergründe dieser Probleme müssen dringendst untersucht und aufgedeckt werden, sonst können wir ein weiteres Zersplittern unserer Gesellschaft nicht verhindern. Aus dieser Zersplitterung entsteht genau das, was bestimmte ultra-rechtsliberale Kräft wollen: Eine Lähmung der Institutionen, die dann nicht mehr in der Lage sind, wirksam gegen COVID-19 vorzugehen.
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